Auf zahlreichen Verbindungen erwartet der Fahrgastverband PRO BAHN durch die Einführung des Neun-Euro-Tickets einen Fahrgastandrang, den die Verkehrsunternehmen nicht abwickeln können. Wenn zusätzlich Fahrräder mitgenommen werden sollen, vergrößert dies die Herausforderung. Der Verband stellt daher Lösungsvorschläge vor und fordert Aufgabenträger und Verkehrsunternehmen auf, diese umzusetzen.
Pfingstsamstag. Um 6.26 Uhr fährt ein Regionalexpress nach Stralsund in den Berliner Hauptbahnhof ein. Auf den Bahnsteigen drängen sich zahlreiche Reisende mit und ohne Gepäck sowie Fahrradtouristen für einen (Tages-)Ausflug an die Ostsee. Der in Lutherstadt Wittenberg startende Zug ist bereits gut gefüllt. Von den geplanten fünf Wägen fehlt auch noch einer – ohne die Achsen, die bisher aus dem umkämpften Stahlwerk in Mariupol kamen, schwindet der Bestand. Während sich die Fahrgäste ohne Rad wie Sardinen in den Zug quetschen, findet an den Fahrradwägen die Diskussion zwischen Radlern und Zugbegleitpersonal statt, da mehr Räder verladen werden wollen, als zugelassen sind. Die planmäßige Abfahrt um 6.32 Uhr verstreicht. Erst eine halbe Stunde später, nachdem die Bundespolizei einen Teil der Räder aus dem Zug komplementiert hat, setzt sich der Zug in Bewegung. Zurück bleiben dutzende frustrierte Radtouristen, aber auch zahlreiche Fahrgäste ohne Rad, die nicht mehr in den Zug passen. Viele werden es zum letzten Mal mit dem Zug versucht haben.
Was sich nach einem konstruierten Worst-Case-Szenario anhört, passiert bereits heute in abgeschwächter Form an warmen Wochenendtagen auf zahlreichen bei Touristen beliebten Linien. Fahrgäste und Räder kommen oft nicht mehr mit oder wenn doch, dann nur mit Quetschen und blauen Flecken. ‚Das Leben in vollen Zügen genießen‘ hat man sich anders vorgestellt.
Die idealen Lösungen in Form längerer Züge und zusätzlicher Fahrten sind aufgrund der genannten Fahrzeugsituation und dem pandemiebedingten Personalmangel kaum umsetzbar. Vorschläge für eine befristete Reservierungspflicht für Räder scheitern an der zu langsamen IT-Entwicklung der Deutschen Bahn. Daher schlägt der Fahrgastverband PRO BAHN eine Reihe von Maßnahmen vor, die von den Verkehrsunternehmen an den geeigneten Stellen umgesetzt werden sollen:
- Markierung hoch ausgelasteter Züge: Züge, die in den letzten Jahren bereits ohne Neun-Euro-Ticket keine freien Radstellplätze im Sommer mehr hatten, sollten in den Auskunftsmedien entsprechend markiert werden.
- Empfehlung von wenig ausgelasteten Routen: Es sollte online und offline regionale Empfehlungen für Rad- und Wandertouren ausgehend von wenig ausgelasteter Strecken kommuniziert werden.
- Angebot von Radbussen: Soweit Fahrpersonal verfügbar ist, sollten Busse mit Radanhänger angeboten werden, die ausgewählte Ziele an der Strecke anfahren.
- Einschränkung der Zustiegsbahnhöfe für Radmitnahme innerhalb von S-Bahn-Systemen: In Großräumen, die über ein dichtes S-Bahn-Netz verfügen, können die Zu- und Ausstiegsbahnhöfe für Radfahrer in Regionalzüge festgelegt werden. An diesen muss unterstützendes Personal eingesetzt werden, das einerseits den Radfahrenden bei der schnellen, korrekten und platzsparenden Verladung der Räder hilft und andererseits bei vollen Zügen das Zugbegleitpersonal vor diskussionswütigen Einzelfällen schützt.
- Einschränkung der Zeitfenster für die Fahrradmitnahme: Bereits heute gibt es in einzelnen Verkehrsverbünden (zum Beispiel Verkehrsverbund Großraum Nürnberg) Zeitfenster, in denen keine Räder mitgenommen werden dürfen, um das Konfliktpotenzial in vollen Pendlerzügen zu reduzieren. Dieses Mittel bietet sich dort an, wo die obigen Maßnahmen nicht ausreichen und es am Schluss auf die Entscheidung ankommt ‚zwei stehende Fahrgäste oder ein Rad‘. Diese Maßnahmen sollten dabei möglichst auf Zeitfenster oder einzelne Verbindungen beschränkt bleiben. Wird solch eine Maßnahme ganztags notwendig, sind Umwegstrecken mit Fahrradmitnahme auszuweisen. Ein bundesweites Verbot der Fahrradmitnahme ist dagegen nicht sinnvoll, da es das Konzept des Umweltverbunds schwächt.
Je nach Linie, Wochentag und Region bieten sich unterschiedliche Kombinationen aus den oben genannten Lösungen an. „Wir fürchten aber, dass man auf zahlreichen Linien zumindest zeitweise nicht um eine Einschränkung der Fahrradmitnahme herumkommen wird, um einen stabilen und zuverlässigen Bahnbetrieb anzubieten“, bedauert Detlef Neuß, Bundesvorsitzender des Fahrgastverbands PRO BAHN.
„Das Neun-Euro-Ticket wird zeigen, dass es einen Bedarf für öffentlichen Verkehr gibt, wenn dieser günstig und mit einem Tarif angeboten wird, den man ohne langes Studium versteht“, ergänzt sein Stellvertreter Dr. Lukas Iffländer. „Akut gibt es leider nur Pest-oder-Cholera-Lösungen. Für die nächsten Jahre muss es aber heißen: mehr und längere Züge, zusätzliche Gleise und längere Bahnsteige sowie ausreichend Personal. Ziel muss sein, dass wir beim nächsten Neun-Euro-Ticket nicht mehr warnen müssen, sondern überzeugt sagen können: ‚Das steckt das System locker weg!‘“.
Kontakt:
Detlef Neuß, Bundesvorsitzender, mobil: 0170-5853246, e-mail: neuss@probahn-nrw.de
Dr. Lukas Iffländer, Fahrgastverband PRO BAHN, stellvertretender Bundesvorsitzender, mobil: 0176-66822886, e-mail: lukas.ifflaender@pro-bahn.de